Barbara Heitger erläutert im Gespräch mit Christian Kniescheck, warum Interim Management aus systemischer Sicht bei bestimmten Aufgaben eine vielversprechende Lösung ist und worauf Interim Manager:innen achten sollten.
Christian Kniescheck: Liebe Barbara, Du hast Dich Dein ganzes Leben mit Change, Wandel und Transformationen beschäftigt, 2017 Heitger Consulting in die KPMG Partnerschaft eingebracht und heuer an die nächste Generation übergeben. Was machst Du jetzt? Genießt Du Deine Pension?
Barbara Heitger: Das ist ein Wort, das mich ziemlich triggert. Ich bin 65 und gesund, ich liebe meine Arbeit und ich mag es, zu gestalten und wirksam zu sein. Ich werde weiter als systemische Beraterin unterwegs sein und mit Start-ups arbeiten, aber nicht nur. Ich kann mir sehr gut vorstellen, mich mehr im Frauenthema, im Thema Nachhaltigkeit und im Thema „Wie stärken wir unsere Demokratie“ zu engagieren. Ich lasse mir Zeit, um herauszufinden, was sich davon wie konkretisiert.
CK: Warum glaubst Du, dass Interim Management ein derart starkes Wachstum verzeichnet?
BH: Ich habe verschiedene Annahmen dazu. Eine Annahme ist, dass die Entscheidungssituationen, in denen vor allem das Topmanagement agiert, immer anspruchsvoller und komplexer werden. In diesem Kontext kann es ein großer Gewinn sein, befristet erfahrene Kräfte hereinzuholen, die einen frischen Blick auf das Gesamtunternehmen haben. Das Interessante am Interimsmanagement ist, dass es ergebnisverantwortlich ist. Jeder Interim Manager und jede Interim Managerin muss sich darum kümmern, eine Kooperationsbasis im Unternehmen aufzubauen, sonst können sie nicht wirksam werden – und das muss in ganz kurzer Zeit gelingen. Diese Gesamtkonzeption kann sehr erfolgsversprechend sein, wenn erstens hoher Zeitpunkt herrscht, wenn es zweitens notwendig ist, in kurzer Zeit Ergebnisse zu erreichen, und wo drittens die Annahme getroffen wird, dass man es mit den bestehenden Ressourcen allein nicht schafft.
Die Komponente der Ergebnisverantwortung kann für ein Unternehmen als Entscheidungskriterium dienen, wenn es sich fragt, ob es sich für Beratung oder Interim Management entscheiden soll.
„Jeder Interim Manager und jede Interim Managerin muss sich darum kümmern, eine Kooperationsbasis im Unternehmen aufzubauen, sonst können sie nicht wirksam werden.“
Eine zentrale Herausforderung beim Interim Management ist, dass die Strukturen stimmen müssen. Je nach Aufgabe braucht es unterschiedliche Settings für den Beginn der Interimstätigkeit und für das Zusammenspiel mit dem Auftraggeber. Hier ist nicht nur Erfahrung notwendig und die richtige Architektur, sondern auch eine hohe organisationale und soziale Kompetenz. Damit meine ich die Fähigkeit des Interim Managers bzw. der Interim Managerin, sehr schnell zu erfassen, wie tickt diese Organisation, was sind das für Leute, wie kann ich Arbeitsbündnisse schließen. Interim Management hat eine ähnliche Funktion wie ein Katalysator: Ich gehe rein, bewirke etwas und bin verhältnismäßig rasch wieder weg. Aber nachher ist das Unternehmen ein anderes.
CK: Ich durfte bei Dir 2019 und 2020 alle drei Module der Change Essential Ausbildung in Wien und Berlin besuchen. Dort und auch in Deinem Buch „Harte Schnitte – Neues Wachstum“ führst Du aus, dass Change Berater:innen gezielt mit Interventionen arbeiten, um ein bestehendes System zu irritieren und produktiv für den Wandel aus der Balance zu bringen.
Was ist aus Deiner Sicht beim Start in ein Interim Management-Mandat zu berücksichtigen? Worauf sollte er bzw. sie besonders Wert legen?
BH: Ich habe die unterschiedlichen Typen von Aufträgen, die du aufgezählt hast, sehr interessant gefunden. Jeder Typ und jeder Anlassfall braucht wahrscheinlich einen anderen Start. Aber ein paar Sachen, denke ich, ziehen sich durch.
Als allererster Schritt ist es notwendig, dass der Interimsmanager sehr transparent über seinen Auftrag spricht, dass er sagt, was die Spielregeln sind, wie er arbeiten möchte und was er mit wichtigen Key-Playern vereinbaren möchte. Also dass die Leute verstehen, wie er kooperieren möchte.
Ich halte es für klug, wenn ein Interim Manager ein paar Grundprinzipien hat und sagt, für die ersten drei Wochen habe ich mir das so vorgestellt und dann setzen wir uns zusammen und schauen weiter. Dieses agile Arbeiten halte ich für sehr wichtig und notwendig, weil er ja quasi in einem „neuen Kontinent“ zu arbeiten beginnt. Der bzw. die Interim Manager:in weiß vielleicht etwas über die Branche und hat vielleicht schon etwas über das Unternehmen gehört, aber er bzw. sie kennt weder die Beteiligten noch die Interna. Es braucht also eine Mischung aus superschneller Diagnose und superschnellem Contracting, um dann gemeinsam einen Fahrplan zu entwickeln. Ich glaube, es ist klar, ein Interim Manager mit einer Hau-Drauf-Mentalität, der wird’s nicht lange machen, da gehen die Leute in Widerstand. Das ist die Kehrseite der Ergebnisverantwortung.
„Im Interim Management braucht es eine Mischung aus superschneller Diagnose und superschnellem Contracting.“
Das Schwierigste, was einem Interimsmanager passieren kann, ist, dass das Unternehmen Dienst nach Vorschrift macht. Deswegen ist es wichtig, sehr schnell Arbeitsbündnisse zu bauen und Kooperationsangebote zu machen, um dann zu entscheiden, was mit wem erreicht werden kann. Ich weiß als Interimsmanager, dass ich in einer One-Up Position bin, aber ich bin angewiesen auf Kooperation und Vertrauen. Mit diesem Paradoxon müssen wir umgehen. Die Belegschaft weiß ja, dass der Interim Manager wieder geht, irgendwann ist der wieder weg, so ähnlich wie bei Beratern. Somit besteht die Gefahr, dass sich alle sagen: „Das sitzen wir auch aus. Wir machen Dienst nach Vorschrift.“
CK: Was Du beschrieben hast, kann wohl jeder unterschreiben. Rasches Analysieren, Vertrauen und Bündnisse Aufbauen ist essenziell. Das geht nicht lehrbuchmäßig, dafür braucht es eine gefestigte Persönlichkeit, bei der die Leute sagen: „Ja, der folge ich, und mit dieser Person möchte ich kooperieren.“
BH: Du brauchst aber auch Struktur. Ich würde nicht nur auf die Person setzen. Da sind sich systemische Beratung und Interim Management ähnlich. Du musst eine Arbeitsstruktur bauen, also eine Meetings- und Entscheidungsarchitektur, eine Kooperationsarchitektur. Natürlich ist es auch sehr von der Person und von der jeweiligen Unternehmenskultur, an die anzudocken ist, abhängig, wie der bzw. die Manager:in die Begegnungen gestaltet, also auch vom jeweiligen Gegenüber im Unternehmen, das ist immer ein Geben und Nehmen.
„Es braucht sowohl in der Beratung als auch im Interim Management eine Kooperationsarchitektur.“
CK: Glaubst Du, dass Mitarbeiter:innen und Organisationen auf Interim Manager:innen anders reagieren als auf andere Führungskräfte?
BH: Ja! Wenn ein:e Interim Manager:in kommt, dann ist das immer ein Signal, dass jemand von außen sagt, so kann es nicht weitergehen. Alle Veränderungen, die du beschrieben hast, sind immer Veränderungen zweiter Ordnung. Es heißt also, wir holen jemand von außen, weil wir‘s intern nicht schaffen, oder weil wir glauben, dass es von außen deutlich besser ist. Das schafft eine große Irritationen, es ist ein Bruch bestehender Kooperationen. Zugleich sagt man, es ist auf Zeit, also der Manager geht auch wieder, wir brauchen eine große Veränderung, die wird aber eben an einen Externen delegiert. Da ist es natürlich aufgelegt, dass Teile der Belegschaft sagen. „Na das schaue ich mir an, wie die das hinkriegen!“
Oder: Der bzw. die Interim Manager:in wird wie ein Held auf ein Stockerl gesetzt, und bekannterweise sterben Helden den Heldentod. Irgendwann werden sie vom Stockerl gestoßen, und dann ist alles vorbei.
Wenn der Auftraggeber eine Person mit viel Erfahrung nimmt, dann sagen die einen: „Toll, dass die jetzt bei uns ist! Die wird uns retten“, aber die anderen meinen eben: „Na das schau ich mir an!“. Die Kunst in dieser Situation ist es, der Verführung nicht nachzugeben, dieser Stockerl- bzw. Helden-Phantasie, und stattdessen zu sagen: „Leute, setzen wir uns an einen Tisch. Das ist mein Auftrag. Ich habe viel Erfahrung und ihr habt viel Erfahrung. Meine Außenexpertise ist nur wirksam, wenn wir sie mit der internen verbinden. Natürlich muss und werde ich Entscheidungen treffen, aber ich verspreche euch, ich bin transparent. Ihr könnt euch darauf verlassen, dass ich so und so kommunizieren werde. Ich möchte mit euch gemeinsam überlegen, wie wir die Kuh vom Eis kriegen. Es gilt also, mit Hierarchien und zugleich auf Augenhöhe zu arbeiten. Das ist anspruchsvoll.
CK: Aber das ist doch bei „normalen“ Manager:innen, der über einen Headhunter geholt werden, das gleiche!
BH: Nein, denn die werden auf Dauer geholt, das ist ein Riesenunterschied. Natürlich gibt es Parallelen: die Ergebnisverantwortung, die hierarchischen Kompetenzen und eine Beauftrag vom Aufsichtsrat. Im Interim Management ist aber viel deutlicher, dass er bzw. sie speziell für eine Veränderung zweiter Ordnung geholt wird, also für einen mehr oder weniger radikalen Muster- und Identitätswechsel.
CK: John P. Kotter hat 1996 sein 8-Stufen-Modell für ein erfolgreiches Change-Management entwickelt, also Schritt 1 „Create a Sense of Urgency“, Schritt 2 „Form a Powerful Coalition“, Schritt 3 „Create a Vision of Change“ und so weiter. Sind nach deinem Dafürhalten diese acht Stufen für Interim Manager:innen ein guter Leitfaden, wenn sie in einem Unternehmen eine Veränderung zweiter Ordnung bewirken sollen? Oder sind Kotters Ansätze überholt?
BH: Also, ich halte von Kotter‘s Stages nach wie vor viel. Man kann sich gut Anleihen nehmen und prüfen, ob man an alles gedacht hat. Ich würde aber ein paar wichtige Ergänzungen hinzufügen. Als Kotter diese acht Stufen formulierte, gab es noch den Unterschied zwischen Change-Projekt und stabiler Zeit, wo nichts passiert. Das gibt es fast nicht mehr, heute gibt eine Veränderung der nächsten quasi die Türklinke in die Hand, beziehungsweise ändern sich Change-Prozesse auch in sich selbst. Wenn du zum Beispiel in der Phase 6 bist, „Create Short-Term Wins“, dann taucht plötzlich Phase 3 „Develop a Vision and Strategy“ wieder auf, wenn es plötzlich heißt: „Moment! Stimmt eigentlich unsere Vision noch oder hat sich unser Umfeld so verändert, dass wir die Vision wieder anfassen müssen?“ Heute muss man acht Stufen immer im Blick haben und überlegen, welche gerade im Vordergrund ist, und wo wir nachschärfen müssen, weil Veränderung nicht mehr in stabilen Umfeldern stattfindet wie früher.
„Früher konnte man zwischen Change-Projekt und stabiler Zeit unterscheiden. Heute gibt eine Veränderung der nächsten die Türklinke in die Hand.“
Was in Kotter’s Stages auch nicht enthalten ist: Du brauchst für das Steuern von Veränderungen eine Architektur, du gründest quasi eine Art Unternehmen auf Zeit. Das ist die Weiterführung der „Leading Coalition“ in die Steuerung und im Sounding der erstrebten Veränderung. Du brauchst permanent eine repräsentative Gruppe von Stakeholdern, damit eine Veränderung gelingt. Systemisch gesprochen fragst Du mit Vertretern des Lösungssystems immer wieder: „Wo stehen wir eigentlich? Stimmt die Vision noch? Haben wir gut kommuniziert? Welche Hindernisse gibt es?“
Kotter hat die Inhalte beschrieben, aber nicht die Gefäße, in denen diese Inhalte entwickelt werden. Diese Gefäße sind aber wahnsinnig wichtig, weil die im Change das eigentlich Stabile sind bzw. sein sollten. Diese Ergänzung zu Kotter ist für mich das Um und Auf.
CK: Also Du meinst, dass es die Powerful Coalition nicht nur in der Anfangsphase braucht, sondern dass die Coalition permanent involviert sein soll?
BH: Am Anfang brauchst du die Powerful Coalition mit den mächtigen Leuten und Entscheidern. Im Verlauf des Change-Prozesses verändert sich dieser Kreis der Mächtigen, da gehören dann nämlich auch die Anwender dazu und die Umsetzer. Im Lauf des Projektes wird die Powerful Coalition eine Repräsentanz aller Lösungspartner, die du brauchst, damit der Change gelingt. Bei einem ERP-Projekt beispielsweise brauchst du die Anwender, die Leute, die sich mit Prozessen auskennen und die Programmierer.
CK: Wenn ein Unternehmen wirklich ums Überleben kämpft und Themen wie Liquiditätssicherung, Standstill mit den Banken und Fortbestehensprognose auf der Agenda stehen, macht es da überhaupt Sinn, sich in dieser Phase mit Change und Wandel auseinanderzusetzen? Sollte man damit nicht besser anfangen, wenn die Blutungen gestillt sind und wenn das Unternehmen wieder in ruhigere Gewässer gelangt ist?
BH: Es macht auch dann auf jeden Fall Sinn, sich mit Change zu beschäftigen, nämlich mit der Frage, wie baue ich eine Change Architektur für ein Krisenprojekt auf. Da gibt es ein paar wichtige Punkte, die zu beachten sind. Wenn du eine Krise hast, brauchst du einen Krisenstab. Der Krisenstab sollte ein interdisziplinäres Team sein mit der bestmöglichen Unterstützung, angefangen von einer optimalen IT- Ausstattung und eine Super-Assistenz. Ein Krisenstab braucht vor allem Konzentration, damit er fokussiert arbeiten kann.
Neben dem Krisenstab braucht es eine professionelle Krisenkommunikation. Das darf niemand aus dem Krisenstab sein, die Kommunikation muss eine eigene Funktion sein. Den Gesamtprozess wiederum steuert die Unternehmensleitung, sie steuert den Krisenstab und die Krisenkommunikation.
Der wesentliche Unterschied zu einem normalen Change-Projekt ist, dass du bei einer Krise extrem stark top-down agierst und in einem kleinen interdisziplinären Team sehr fokussiert Lösungen erarbeitest. Es gibt also zunächst keinen Raum für breites Involvement. Dennoch ist es wichtig, in den Teams des Krisenstabs die Stakeholder-Perspektiven mitzudenken und die Stakeholder an Bord zu halten. Das Thema Kommunikation ist da von höchster Bedeutung. Zur Krisenkommunikation gehören auch die persönlichen Gespräche. Das ist die vornehmste Aufgabe des C-Levels.
In der Restrukturierung gibt es auch eine Change-Architektur, die, wenn die Linie klar ist, auf pointiertes Involvement angelegt ist. Ein ganz wesentlicher Punkt im Krisenmanagement ist es auch zu überlegen, wann die Krise für beendet erklärt wird.
Dann muss man wieder umschalten auf Involvement, zum Beispiel auf die Frage des Zukunftsbilds und wie holen wir jetzt nach der Krise die Leute wieder an Bord. Dieses Umschalten muss schon im Krisenstab mitgedacht werden, sonst ist die Krise ewig und kein Ausnahmezustand.
CK: Im Interim Management stieg in den letzten Jahren nicht nur die Nachfrage, sondern auch das Angebot. Viele Topleute im Alter von fünfzig plus sagen: „Ich gehe nicht mehr in die Linie.“ Manager:innen in deinem Alter wollen spannende Aufgaben haben, Geld ist nicht mehr so wichtig und die Kinder sind schon aus dem Haus.
BH: Diese Leute suchen neue Gestaltungschancen.
CK: Genau! Und sie bilden sich gerne weiter. Was würdest du Interim Manager:innen beibringen wollen?
BH: Ich glaube, die können schon sehr viel, aber von dem, was ich über dieses Feld weiß, würde ich ihnen Folgendes anbieten: Erstens, welches Setting und welche Formate brauchen die unterschiedlichen Typen von Interim-Management-Auftrag, also was in einer Krise, was in einer Restrukturierung, was im Projektmanagement, was im Falle einer strategischen Erneuerung und was, wenn es um Vakanz geht. Welche Besonderheit hat jeder dieser Aufträge und wie gestalte ich den Einstieg. Beim Einstieg wird wahnsinnig viel entschieden, also wie gestalte ich den Einstieg in Relation zu den Auftraggebern, zu den C-Level Kollegen und zur Führungscommunity. Wie baue ich ein gutes Contracting auf, von der Kommunikation über die Spielregeln bis hin zu den Arbeitsformaten. Das wäre der erste Schwerpunkt.
Dann würde ich an der Frage arbeiten, was die typischen Herausforderungen für Interim Manager:innen sind und wie sie die sinnvoll und gut gestalten können: Entscheidungssituationen, Personalsituationen, Architektursituationen, Spannungsfelder zwischen den Auftraggebern und den Leuten im Unternehmen.
Und drittens würde ich aufgreifen, was das Besondere an der Rolle von Interim Manager:innen ist. Die sind ja immer eine Intervention, die polarisiert, die Befürworter hat und Gegner, weil es immer eine Intervention zweiter Ordnung ist. Das würde ich mit ihnen durcharbeiten, wie sie diese Situationen möglichst produktiv gestalten können – für sich und für andere.
CK: Danke für dieses interessante Gespräch!
In einem zweiten Teil dieses Gespräch interviewt Barbara Heitger umgekehrt Christian Kniescheck. Dabei geht es um den Arbeitsalltag im Interim Management und die Abläufe vor, während und nach entsprechenden Mandaten. Das Gespräch dazu finden Sie hier.