Gerhard Wüest im Gespräch mit CFOaktuell

Das Gespräch führte Rita Niedermayr, Partnerin von EY und Herausgeberin von CFOaktuell, Zeitschrift für Finance & Controlling

CFOaktuell: Herr Wüest, angesichts der aktuellen Insolvenzwelle in Österreich: Welche makroökonomischen Indikatoren sollten CFOs besonders im Auge behalten, um frühzeitig auf potenzielle Krisen reagieren zu können?

Gerhard Wüest: Viele Unternehmen sehen sich einem internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Hier ist es wichtig, die Entwicklung der wichtigsten volkswirtschaftlichen Kennzahlen, wie zB die Inflationsentwicklung und Kostensteigerungen im Personalbereich, im Verhältnis zu den Produktionsländern der Wettbewerber zu beobachten.

CFOaktuell: Wie können Unternehmen präventiv auf die identifizierten operativen Ursachen von Insolvenzen reagieren, um ihre Resilienz zu stärken?

Gerhard Wüest: In der Management Factory haben wir über einen Zeitraum von 20 Jahren rund 150 Restrukturierungsfälle analysiert. Dabei haben wir festgestellt, dass die überwiegende Mehrheit der Restrukturierungsfälle ihren Ursprung in einer schwachen Marktstellung im Verhältnis zu den Wettbewerbern hat. Wenn das Marktvolumen stagniert oder sinkt, versuchen die meisten Wettbewerber, Marktanteile zu gewinnen. Dies gelingt aufgrund der Skalenerträge meist denjenigen mit höherem Marktanteil besser als denjenigen mit geringerem Marktanteil. Unternehmen mit einer schwachen Marktstellung verlieren in schwierigen Zeiten meist mehr Deckungsbeitrag als gut positionierte Unternehmen. Da die Fixkosten nicht im Verhältnis anpassbar
sind, geraten diese Unternehmen in eine Verlustzone, die oft als operative Krise bezeichnet wird, in Wirklichkeit jedoch die Folge einer strategischenn Krise ist. Klassische operative Ineffizienzen ohne strategischen Hintergrund, wie zB zu hohe Overheadkosten, gibt es heute seltener.

CFOaktuell: Strategische Krisen sind oft unauffällig. Welche Frühwarnsysteme und Kennzahlen empfehlen Sie, um eine strategische Krise rechtzeitig zu
erkennen?

Gerhard Wüest: Für uns in der Management Factory ist die wichtigste Früherkennung die Abgrenzung der Unternehmenseinheiten nach strategischen Geschäftsfeldern und die laufende Beobachtung von Markt und Mitbewerberentwicklungen, wie zB relative Marktanteile, in jedem Geschäftsfeld.

CFOaktuell: Welche Rolle spielt das Top-Management in der erfolgreichen Bewältigung einer leistungswirtschaftlichen Krise, und wie kann es die Belegschaft
effektiv einbinden?


Gerhard Wüest: Das Top Management hat bei der Bewältigung einer Krise zwei Hauptfunktionen: Es muss transparent kommunizieren, damit die Belegschaft versteht, warum es zu strukturellen Einschnitten kommt. Die Mitarbeiter dürfen den Zustand des Unternehmens und die dahinterliegenden Sanierungspläne nicht aus den Medien erfahren, sondern müssen vorab vom Management informiert werden. Zugleich sollte das Top-Management mit gutem Beispiel vorangehen, um das Verständnis der Mitarbeitenden zu erhöhen. Eine Kürzung von Sozialleistungen muss auch die oberste Managementebene betreffen, damit die Akzeptanz in der Belegschaft vorhanden ist.

CFOaktuell: Die Erstellung eines integrierten Finanz- und Erfolgsplans ist ein zentraler Bestandteil der finanziellen Stabilisierung. Welche Best Practices haben sich hierbei in Ihrer Arbeit besonders bewährt?

Gerhard Wüest: Wir versuchen immer, ein ähnliches Modell aufzubauen: ein identischer integrierter Finanz und Erfolgsplan je Gesellschaft, darauf aufbauend ein integrierter KonzernFinanz und Erfolgsplan, auf monatlicher Ebene in einer Plan und Ist Version. So kann man rasch Abweichungen von der gewünschten Plansituation erkennen und Gegensteuerungsmaßnahmen ergreifen.

CFOaktuell: Wie bewerten Sie die Rolle von Alternativkonzepten in der finanziellen Restrukturierung und welche innovativen Ansätze haben Sie in der Praxis erfolgreich umgesetzt?

Gerhard Wüest: Sanierung braucht immer einen Plan B. Oftmals sind dies gerichtliche Restrukturierungskonzepte wie ein Sanierungsverfahren in Österreich oder ein STARUG Verfahren in Deutschland. Die Gegenüberstellung der Auswirkungen von Plan A und B erhöht oftmals die Bereitschaft von Akkordstörern für eine außergerichtliche Lösung.

CFOaktuell: Die Reduktion der internen Komplexität ist ein Schlüssel zur leistungswirtschaftlichen Sanierung. Welche Lessons Learned können Sie aus
Ihren Projekten für andere Unternehmen ableiten?

Gerhard Wüest: Klassische Kostensenkungsprojekte (Effizienzsteigerung) funktionieren heute kaum mehr. Meistens haben die Unternehmen, die sich in einer Krise befinden, diese Hausaufgaben bereits gemacht, nur hat es nicht gereicht, um die Krise zu bewältigen. Das Herausnehmen von Kunden, Regionen, Artikeln, Lieferanten etc, die wenig Deckungsbeitrag, aber viel Komplexität ins Unternehmen bringen, ist eine Methode, die wir oft in Krisenunternehmen einbringen. Natürlich braucht es Überzeugungsarbeit und Mut, wenn man bei Krisenunternehmen (noch mehr) Umsatz aktiv reduziert, um erst nachgelagert eine Fixkostenreduktion zu bewirken.

CFOaktuell: Die Entwicklung innovativer Geschäftsmodelle ist während einer Restrukturierung oft entscheidend. Welche Methoden und Ansätze nutzen Sie, um kreative und nachhaltige Lösungen zu entwickeln?

Gerhard Wüest: Restrukturierung braucht Sinn. In der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle sehen wir diesen Sinn. Im Gegensatz zu klassischen Geschäftsfelderweiterungen braucht die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle die Veränderung von zumindest zwei Geschäftsdimensionen wie zB Kunden, Produkte, Wertschöpfungstiefe, Regionen, Technologien.

CFOaktuell: Wie gehen Sie bei der Bewertung und Priorisierung von Geschäftsfeldern vor, um sicherzustellen, dass Investitionen in die richtigen Bereiche fließen?

Gerhard Wüest: Je enger die Investition im Bereich der Kernkompetenz des Unternehmens liegt, desto erfolgreicher wird das Ergebnis sein. Wir halten wenig von Priorisierungsmatrizen nach Punkten, wir sind mehr Freunde der strategischen Priorisierung nach Markt und Wettbewerbsparametern.

CFOaktuell: Sie betonen, dass jede Krise eine Chance für tiefgreifende Veränderungen bietet. Können Sie uns konkrete Beispiele nennen, wie Unternehmen diese Chancen genutzt haben, um langfristig wettbewerbsfähiger zu werden?

Gerhard Wüest: Ein Beispiel ist ein Markenartikelproduzent, der sich durch den Verkauf der Geschäftsanteile an einen asiatischen Konzern neue Vertriebszugänge erschlossen hat. Die Absatzkrise in Europa konnte durch den zusätzlichen Absatzkanal in Asien kompensiert werden. Die Zugänge des neuen Eigentümers haben stark geholfen, in Asien Fuß zu fassen, was in der früheren Eigentümerstruktur nicht oder nur sehr langsam gelungen wäre. Ein weiteres Beispiel ist eine in Europa tätige Handelskette, die durch den Fokus auf margenstarke Produkte wieder auf die Erfolgsspur zurückgeführt wurde. Hier war es ein neues TopManagement, das die Bereitschaft hatte, einen starken Umsatzrückgang in Kauf zu nehmen, um das Unternehmen wieder zu einem profitablen Kern zurückzuführen.

CFOaktuell: Welche strategischen und operativen Empfehlungen würden Sie CFOs geben, die ihre Unternehmen durch aktuelle und zukünftige Krisenzeiten navigieren müssen, insbesondere im Hinblick auf die Digitalisierung und globale Marktveränderungen?

Gerhard Wüest: Der klare Fokus auf die Kernkompetenzen des Unternehmens hilft bei der Strategiearbeit, egal ob es sich um Digitalisierungsinitiativen oder um Marktentwicklungen handelt.

CFOaktuell: Hat in den Unternehmen, die in eine Restrukturierung geraten sind, das Controlling versagt oder waren Signale vorhanden, die vom Management nicht ausreichend beachtet wurden?

Gerhard Wüest: Das operative Controlling hat sich in den letzten Jahren stark verbessert und ist selten ein Krisenauslöser, zumindest bei den mittleren bis großen Unternehmen, die wir begleiten. Bei KMU mag dies anders sein. Das strategische Controlling, also die Definition der Marktsegmente, die Messung von Markt und Mitbewerberentwicklungen sowie die Messung der unternehmensbezogenen Marktstellung, wird meist nicht ausreichend durchgeführt und zeigt nicht rechtzeitig den Verlust der eigenen Marktstellung auf.

CFOaktuell: Welche Anforderungen stellen die schwieriger werdenden Rahmenbedingungen an das Controlling?

Gerhard Wüest: In der VUCA Welt, insbesondere bei Unternehmen in der Krise, setzen wir wesentlich mehr auf rollierende und auf wenige Kenngrößen beschränkte Forecasting Prozesse als auf komplexe topdown/bottomup Budgetierungsabläufe.

CFOaktuell: Was sind Ihre ultimativen Lessons Learned nach 20 Jahren Restrukturierungserfahrung?

Gerhard Wüest: Unsere Lessons Learned nach 20 Jahren Restrukturierungserfahrung sind:

  • Strategische Frühwarnung statt operative Optimierung: Die meisten Restrukturierungsfälle haben ihren Ursprung in einer schwachen Marktstellung im Vergleich zu den Wettbewerbern. Daher ist es wichtiger, in strategische Frühwarnsysteme zu investieren, um frühzeitig auf Marktveränderungen reagieren zu können.
  • Schnelligkeit vor Genauigkeit: In Krisenzeiten ist es entscheidend, schnell zu handeln. Lange Analysen sind oft nicht möglich, daher muss man bereit sein, schnelle Entscheidungen zu treffen.
  • Die Kraft der Krise nutzen: Krisen bieten die Möglichkeit, das Unternehmen aktiv zu verändern, bevor der Markt und die Wettbewerber dies tun. Es ist wichtig, diese Chance zu ergreifen und das Unternehmen proaktiv zu gestalten.

Diese Erkenntnisse haben uns geholfen, Unternehmen erfolgreich durch schwierige Zeiten zu navigieren und ihre Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu stärken.

Im beigefügten PDF finden Sie das komplette Interview zum Download: