
In der Valtus Alliance verfügen wir über ein weltweites Netzwerk von Restrukturierungsexpert:innen – denn Gesetzgebung und Restrukturierungspraxis unterscheiden sich von Land zu Land erheblich. In diesem Interview erläutert Joe Poling, President und Chief Revenue Officer von Think Consulting, was Chapter 11 in der Praxis bedeutet und warum Private Equity bei Restrukturierungen in den USA eine wichtige Rolle spielt. Das Interview führt Christian Kniescheck, Partner bei Management Factory,
Joe Poling bringt umfassende Erfahrung im Hochskalieren und Transformieren von Unternehmen mit. Ob als Leiter seiner eigenen Firmen, in Führungspositionen oder als Unternehmensberater – er hat seine Überzeugungen bezüglich Transformation immer wieder mit konkrete Ergebnisse unter Beweis stellen können. Bitte beachten Sie: Joe Poling ist kein Jurist, und nichts von dem hier Gesagten stellt eine Rechtsberatung dar.
Christian Kniescheck wiederum ist seit vielen Jahren in Österreich und Deutschland als Interim-CEO, Interim CFO, Interim CRO (Chief Restructuring Officer) und Interim CTO (Chief Transformation Officer) tätig. 2021 wurde er in Österreich zum „Interim Manager des Jahres“ gekürt. Seinen MBA erwarb er 2000 an der University of Delaware.
Joe, was macht den rechtlichen Rahmen für Insolvenz und Restrukturierung in den USA einzigartig?
Das US-amerikanische Rechtssystem, insbesondere das Chapter 11 des Bankruptcy Codes, ist einzigartig aufgrund seines Debtor-in-Possession-Modells. Es erlaubt dem bestehenden Management, während der Restrukturierung die Kontrolle über das Unternehmen zu behalten. Der Prozess legt großen Wert auf Geschäftskontinuität, Verhandlungen mit Gläubiger:innen sowie operative Neuausrichtung – beispielsweise durch die Auflösung von Mietverträgen, Kündigungen von Verträgen oder den Verkauf von Vermögenswerten. Das Verfahren ist strukturiert, flexibel und dynamisch – und dadurch ein mächtiges Werkzeug, wenn es strategisch und diszipliniert eingesetzt wird.
Gibt es in einer Liquiditätskrise oder bei drohender Insolvenz verpflichtende Berichte oder Gutachten?
In den frühen Phasen einer Liquiditätskrise gibt es in den USA keine generelle gesetzliche Pflicht zu bestimmten Berichten. Sobald jedoch ein Unternehmen Chapter 11 beantragt, muss es unter Aufsicht des Gerichts detaillierte Finanzpläne, Offenlegungserklärungen und regelmäßig Geschäftsberichte vorlegen. Außerhalb formaler Verfahren fordern Stakeholder wie Kreditgeber:innen oder Boards zunehmend externe Gutachten – typischerweise in Form von 13-Wochen-Liquiditätsplänen, Machbarkeitsanalysen und Turnaround-Plänen, um so fundierte Entscheidungen treffen zu können und um ihren Treuepflichten nachzukommen.
Was ist deiner Erfahrung nach der häufigste Fehler in den frühen Phasen einer Liquiditätskrise?
Der häufigste Fehler ist, zu lang zu warten. Unternehmen verharren oft im Status der Verdrängung, in der Hoffnung, dass kurzfristige Erfolge oder Marktbewegungen tiefere strukturelle Probleme lösen. Dieses Zögern reduziert die verfügbaren Handlungsoptionen und erhöht die Kosten. Untätigkeit entsteht meist durch Uneinigkeit im Führungsteam, durch Angst vor Reputationsschäden und durch emotionale Bindung an Vergangenes. Je früher man gegensteuert, desto größer ist die Auswahl an Optionen – und desto höher die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Sanierung.
Wann und in welcher Rolle sollte ein:e externe:r Restrukturierungsexpert:in hinzugezogen werden und wer sollte ihn bzw. sie beauftragen?
Externe Unterstützung sollte eingeschaltet werden, sobald sich Anzeichen von finanzieller Schieflage oder operativer Instabilität zeigen. Think Consulting wird häufig schon vor einem offiziellen Insolvenzantrag eingebunden, also in der Phase, in der außergerichtliche Lösungen noch möglich sind. Unsere Rollen reichen vom Chief Restructuring Officer über den Interim-CFO und die Board-Beratung bis hin zur Leitung einzelner Programme. Beauftragt werden wir meist vom Board, von den Gesellschafter:innen, von Private-Equity-Investor:innen oder von Kreditgeber:innen. Je früher wir von Think Consulting eingebunden sind, desto besser können wir stabilisieren und Eskalationen verhindern.
Wie siehst du den Einsatz von Schutzschirmverfahren als Teil einer Restrukturierungsstrategie? Gibt es so etwas in den USA?
In den USA übernimmt das Chapter-11-Verfahren selbst die Funktion eines Schutzschirms. Mit der Antragstellung greift der sogenannte Automatic Stay, der Gläubiger:innen daran hindert, Forderungen einzutreiben oder Vollstreckungsmaßnahmen einzuleiten. Dadurch entsteht der notwendige Handlungsspielraum für die Restrukturierung. Während ein solcher Schutz in manchen Ländern als Ausnahme gilt, ist er in den USA fest im System verankert und wird regelmäßig sowohl taktisch als auch strategisch genutzt.
Bekommen Arbeitnehmer:innen in den USA bei Insolvenzen weiterhin Gehalt inkl. der Boni oder verlieren sie alles bzw. einen Teil?
In einem Chapter-11-Verfahren gelten Löhne und Gehälter, die vor der Antragstellung verdient wurden, als ungesicherte Forderungen – ein Teil davon erhält jedoch Vorrangstatus. Nach der Antragstellung verdiente Gehälter werden als Verfahrenskosten behandelt und sollen somit regulär ausgezahlt werden. Boni hingegen unterliegen einer zusätzlichen gerichtlichen Prüfung und können gekürzt oder gestrichen werden – es sei denn, sie sind Teil eines vom Gericht genehmigten Key Employee Incentive Plans.
Wie stellen Interim Manager:innen in Restrukturierungsfällen sicher, dass sie ihr Honorar erhalten?
Honorare und Vergütungen für Interim-Executives unterliegen in Chapter 11 der Genehmigung durch das Gericht und werden als prioritäre Verfahrenskosten behandelt – sie werden also vor ungesicherten Gläubiger:innen bezahlt. In außergerichtlichen Restrukturierungen vereinbaren wir hingegen klare Bedingungen im Voraus: Retainer, Meilensteinzahlungen und Reporting auf Board-Ebene. Vertrauen ist wichtig, aber letztlich sichern gut strukturierte Verträge und ein belastbarer Leistungsausweis die Bezahlung.
Welcher Fall in deiner Karriere hat dein Verständnis von Restrukturierung am stärksten geprägt – und was hast du daraus gelernt?
Ein prägender Fall betraf ein vom Gründer geführtes Dienstleistungsunternehmen, das sich trotz klarer Anzeichen nicht zu strukturellen Veränderungen durchringen konnte. Marktchancen und verwertbare Assets waren vorhanden, es gab mehrere Sanierungsoptionen – aber emotionale Bindung und Angst vor Veränderung lähmten die Führung. Das Unternehmen meldete die Insolvenz dann zu spät an, und viele Vermögenswerte gingen verloren. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass oft nicht betriebswirtschaftliche oder juristische Mechanismen, sondern das Mindset des Eigentümers bzw. des Managements das größte Hindernis bei Restrukturierungen ist.
Wie etabliert ist Private Equity in den USA im Hinblick auf Restrukturierung? Spielen Private-Equity-Investor:innen eine große Rolle, oder bleiben Banken und bestehende Anteilseigner:innen die Hauptakteure?
Private Equity ist in den USA sehr stark etabliert. Viele spezialisierte Fonds investieren gezielt in kriselnde Unternehmen oder Assets, kaufen diese günstig auf und richten sie neu aus. Häufig sind Private-Equity-Firmen nicht nur Eigentümer:innen, sondern auch Lösungsanbieter:innen – sie bringen sowohl Kapital als auch operative Expertise mit ein. Banken und traditionelle Anteilseigner:innen bleiben bei uns in den USA zwar wichtige Stakeholder, doch Private Equity führt und ermöglicht in vielen Fällen die Sanierung.
Lieber Joe Poling, vielen Dank für das Interview.
Es war mir ein Vergnügen! Ich muss in guter angelsächsischer Tradition abschließend nochmals betonen, dass ich kein Jurist bin, und dass nichts in diesem Interview eine Rechtsberatung darstellt.